Markus Weidmann (51) ist Geologe und tanzte vor rund zehn Jahren Tango Argentino. Da er auch schriftstellerisch tätig ist, liess er sich eines Tages vom getanzten Erleben zu diesem Text inspirieren.
Tangohimmel
Tausend Kerzen. Tausend schwere Herzen. Jedes schwere Herz zwischen zwei Flügeln.
Seines führt Ihres. Herzschlag, Flügelflattern im Gleichschlag. Jede Salida leichtes Abheben; mehr nicht, denn himmlische Flügel sind nicht für schwere Herzen gemacht.
Im Himmel hält die Schwerkraft des Tangos die Herzen am Boden.
Das Bandoneon seufzt. Die Geige schluchzt. Das Piano klagt. Der Liebe Gott steht in einer dunklen Ecke an der Bar. Er plaudert mit dem Schicksal, Stammgast im Tangohimmel. "Tanzen? Nein danke. Übers Wasser schreiten schon. Aber Tango ..."
Der Bandoneonspieler seufzt. Der Geigenspieler nippt an einem Glas Melancholie. Würzig, bitter, leichter Nachgeschmack von Glück. Die Sängerin schenkt nach: Sie erzählt von Buenos Aires, von unglücklicher Liebe, von allem, was schwere Herzen betrunken macht. Sie blinzelt zum Lieben Gott hinüber. Und der Liebe Gott denkt: "Ach, ich muss wieder mal nach Buenos Aires."
Das Bandoneon bittet zum Tanz; es führt die Geige mit ihrem Spiel aufs Parkett. Die Geige folgt willig; geschmeidig wie eine Katze wiegt sie sich in den Akkorden des Bandoneons. Und jeder Herzschlag ein trunkener Schritt: Ocho, Salida, Malinga.
Eines himmlischen Tages lässt sich ein Paar vom Bandoneon verführen; das Bandoneon, diese Schlange, lockt die beiden tanzend an den Rand des Tangohimmels und lässt sie trunken stolpern.
Und so fallen sie über die Kante des Himmels hinaus, der verrauchten Seele von Buenos Aires in die Arme. Sie versuchen, wieder in den Himmel zu fliegen. Vergebens. Denn wen die Schwerkraft des Tangos am Boden hält, der fliegt nicht so leicht wieder davon.
So ziehen sie ihre Flügel aus, beginnen zu tanzen in einer Kneipe voll von schweren Herzen. Und so kommt der Tango aus dem Himmel nach Buenos Aires.
"Ach Gott, ich muss mal wieder nach Buenos Aires."
markus weidmann, 1997